Aufruhr im norwegischen Verband: Mit einem offenen Brief wehren sich die Trainer und Athleten gegen eine mögliche Entlassung von Sportchef Clas Brede Braathen. Daraus entwächst eine große öffentliche Debatte.
Der norwegische Skiverband gilt nicht nur im Skispringen als fortschrittlich bis vorbildlich. Doch diese Reputation bröckelt nun bedenklich. Nachdem sich der Verband bisher weigert, den auslaufenden Vertrag von Sportchef Clas Brede Braathen zu verlängern und dieses Vorgehen auch nicht begründet, wandte sich das Skisprungteam auf Initiative von Herren-Cheftrainer Alexander Stöckl mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit. Daraus entwuchs binnen 24 Stunden eine große öffentliche Debatte in Norwegen, die sogar bis auf die Titelseiten der Zeitungen führte.
In diesem Brief kritisieren sie die Weigerung von Verbandspräsident Erik Roeste und Generalsekretärin Ingvild Bretten Berg, den Vertrag mit Braathen, der im Frühjahr 2022 ausläuft, zu verlängern. „Diese Entscheidung ist für uns nicht nachvollziehbar und somit inakzeptabel“, heißt es in dem Schreiben, das der norwegische Sender ‚TV2‘ am Dienstag veröffentlicht hat. Das sei vor allem darin begründet, dass es keinerlei Begründungen gab, warum die Zusammenarbeit nicht fortgesetzt werden soll – zumal das Skisprungkomitee, welches für die Berufung des Sportchefs zuständig ist, durch die Unterzeichnung eines neuen Vertrags mit Braathen, der seinerseits ebenfalls unterschrieben hatte, ein klares Bekenntnis abgegeben hatte.
Braathen genießt intern hohes Ansehen
Auch seitens der Trainerteams und der Athletinnen und Athleten gibt es den großen Wunsch, weiterhin mit ihm zusammenzuarbeiten. Aus diesem Grund haben sämtliche Staff-Mitglieder und auch Maren Lundby und Robert Johansson, die als Athletensprecher fungieren, ihre Unterschrift unter den Brief gesetzt. Lundby, die dem Skispringen in Norwegen durch ihre großen Erfolge zu neuer Popularität verhalf, drückte gegenüber der Zeitung ‚Dagbladet‘ ihre Dankbarkeit gegenüber Braathen aus: „Ohne seine Unterstützung – sowohl in finanziell als auch motivational – hätte ich bereits vor einiger Zeit aufgegeben. Er war für mich als Athletin bis jetzt eine unglaublich große Unterstützung.“
Der Sportchef selbst ließ über die Zeitung ‚Drammens Tidende‘ ausrichten, dass er „auf Anraten seiner Anwälte“ keine Stellungnahme zu der Sache abgeben werde. Roeste und Berg hatten zuvor ebenfalls gegenüber norwegischen Medien bekundet, dass es von ihnen keine Kommentare geben werde. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass es nicht um sportliche Belange, sondern vielmehr um einen persönlichen Konflikt geht. So berichtet ‚Dagbladet‘, dass sich das Verhältnis zwischen Braathen und der Verbandsspitze zunehmend abgekühlt hätte. Insbesondere, nachdem er im vergangenen Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie vor schwerwiegenden Folgen für das Skispringen gewarnt hatte. Aufgrund fehlender TV-Gelder durch den Abbruch der Raw-Air-Tour im Jahr 2020 und der gänzlichen Absage im vergangenen Winter fehlten die Geldmittel zur Berufung eines B-Teams im Herren-Bereich.
Braathen wiederum wurde zu Last gelegt, dass er für das Scheitern einer Kooperation mit dem chinesischen Verband verantwortlich war. Dieser hatte 22 junge Sportlerinnen und Sportler nach Norwegen geschickt, die bis zu den Olympischen Winterspielen 2022 zu Top-Skispringerinnen und -Skispringern ausgebildet werden sollten. Doch die Zusammenarbeit wurde seitens der Chinesen nach gut zwei Jahren abgebrochen, wodurch der norwegische Verband auf rund vier Millionen Kronen (etwa 380.000 Euro) sitzen blieb. Diese Summe konnte nach einer Abmachung schlussendlich auf die Hälfte reduziert werden, hinterließ jedoch augenscheinlich offene Wunden.
TV-Experten verstehen Verbandsspitze nicht
Dass Braathen überhaupt infrage gestellt wurde, löste im Skisprung-Mutterland eine große öffentliche Debatte aus. Ex-Skispringer und TV-Experte Anders Jacobsen zeigte sich gegenüber ‚Nettavisen‘ überrascht: „Es ist doch merkwürdig, dass es innerhalb der Skisprungsparte eine klare Einigkeit gibt und sogar ein Vertrag unterschrieben wurde – von der Generalsekretärin aber nicht und es jetzt einen Sinneswandel gegeben haben soll.“ Jacobsen ergänzte: „Ich weiß, dass Clas sehr direkt und klar in seiner Meinung ist, aber in der Skisprungfamilie weiß man, dass es das Beste für den Sport ist. Er steht für Weiterentwicklung und will Veränderung. Und wenn das der Knackpunkt sein soll, dann weiß ich auch nicht mehr.“
Auch für Petter Tenstad, der als Kommentator für den Streamingdienst ‚Viaplay‘ arbeitet, ist das Verhalten der Verbandsspitze nicht nachvollziehbar. „Natürlich ist Braathen nun schon seit 2003 in diesem Amt, aber man darf auch nicht vergessen, was er in dieser Zeit aus dem norwegischen Skispringen gemacht hat. Er hat ein starkes Team aufgebaut und auch ehemalige Springerinnen und Springer mit dazu geholt, die sich einbringen. Dazu hat er die Einführung der Raw-Air-Tour vorangetrieben, die dem Verband zusätzliche Einnahmen beschert. Und nicht zuletzt hat er sich seit jeher für das Damen-Skispringen stark gemacht“, führte Tenstad im Gespräch mit skispringen.com aus.
Für den Kommentator wäre es ein „großer Fehler“, nicht mit Braathen zu verlängern: „Im Grunde haben Berg und Roeste keine Wahl. Die Sache ist eindeutig, wenn man sieht, welchen Rückhalt er im Team genießt.“ Zudem bestehe aus seiner Sicht die Gefahr, dass man im Falle eines Abgangs des Sportchefs noch weitere Positionen neu besetzen muss: “Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, dass es für einen Nachfolger, der gar nicht gewollt ist, enorm schwierig wird. Und man kann sich auch nicht sicher sein, dass der Rest des Teams so erhalten bleibt“, so Tenstad. Herren-Cheftrainer Alexander Stöckl hatte bereits geäußert, seine eigene Zukunft im Verband zu hinterfragen, falls der Sportchef gehen müsse. Für die kommenden Tage sind nun einige Meetings im Verband anberaumt, in denen die Situation geklärt werden soll. Ausgang ungewiss.
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