Tops & Flops

Kamil Stoch schreibt Geschichte, Drama um Richard Freitag

16 Jahre nach Hannawalds Grand Slam vollbringt Kamil Stoch zum zweiten Mal das Kunststück, alle Springen der Vierschanzentournee zu gewinnen. Pechvogel Freitag sorgt für Diskussion, die einst dominierende Skisprungnation erlebt ein Debakel. Die Tops & Flops.

Einen Hehl aus seinen Ambitionen, den alleinigen Rekord bis möglichst in alle Ewigkeiten zu behalten, hat Sven Hannawald nie gemacht. „Mir wäre es schon recht gewesen, wenn sich die Frage nach der Wiederholung meines Vierfach-Erfolgs bereits erledigt hätte. Jetzt muss ich noch etwas zittern“, sagte der 43-Jährige, dem es vor der diesjährigen Vierschanzentournee als bisher einzigem Athleten gelungen war, alle vier Springen der traditionsreichen Wettkampfserie zu gewinnen, bereits nach dem Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen.

Hannawald begrüßt Stoch im exklusiven Klub

Am vergangenen Sonnabend gegen 18:50 Uhr hatte sich die Sache mit dem Zittern erledigt. Doch nicht etwa, weil Kamil Stoch beim Abschlussspringen in Bischofshofen nach zuvor drei Siegen auf der Zielgeraden noch ins Straucheln geraten wäre. Im Gegenteil: Als der Pole, als Führender des ersten Durchgangs im dramatischen Schlussakt als Letzter an der Reihe, sich vom Balken in die flache Anlaufspur der Paul-Außerleitner-Schanze abstieß, trotz eines nicht ganz pünktlichen Absprungs hervorragende 137 Meter in den Schnee setzte und ob dieser grandiosen Leistung zunächst einmal erschöpft alle Viere im Auslauf von sich streckte, gratulierte Hannawald nur wenige Augenblicke später mit den Worten „Willkommen im exklusiven Klub“ als einer der ersten.

Kamil Stoch in den Armen von Sven Hannawald, 16 Jahre nach dessen Grand Slam – ein Bild, das um die Welt ging. Noch eine gute Woche zuvor hätten die wenigsten mit dem Vierfachtriumph des 30-Jährigen gerechnet, der in seiner Karriere bereits alle großen Titel abgeräumt hat, in dieser Saison vor dem Start in Oberstdorf jedoch noch ohne Sieg war. Doch je länger die Tournee dauerte, desto besser wurden die Leistungen von Stoch. Zum Auftakt im Allgäu noch vom Wind begünstigt, waren die Bedingungen auch in Garmisch-Partenkirchen zumindest nicht zu den Ungunsten des Polen. Spätestens in Innsbruck aber, wo Stoch mit fast 15 Punkten Vorsprung gewann, ließ er keinerlei Zweifel mehr an seiner herausragenden Form aufkommen. Mit dem Tagessieg in Bischofshofen verteidigte er den bereits im Vorjahr errungenen Gesamtsieg bei der Vierschanzentournee erfolgreich. „Ich habe heute Sprünge von ihm gesehen – ich weiß nicht, ob in meinem Leben jemals bessere Sprünge gesehen habe. Hut ab, er hat es verdient“, adelte ihn der deutsche Bundestrainer Werner Schuster im Anschluss.

Freitags Missgeschick sorgt für Diskussionen

Ein zweifelsohne historischer Triumph, dessen Zustandekommen zumindest fraglicher gewesen wäre, hätte sich Kamil Stoch beim Bergiselspringen in Innsbruck nicht – freilich ohne eigenes Zutun – seines schärfsten Konkurrenten entledigt. Bis zum Springen in der Olympiastadt nämlich war Richard Freitag dem Polen dicht auf den Fersen, wurde sowohl in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen Zweiter und reiste mit nur 11,8 Punkten Rückstand nach Österreich. Dort aber passierte dem Deutschen, der im Vorfeld der Tournee als Top-Favorit gehandelt wurde, ein folgenschweres Missgeschick.

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Bei seinem Sprung auf 130 Meter im ersten Durchgang hatte Freitag Probleme bei der Landung im hohen Weitenbereich, stieg sich mit dem rechten Skiende auf das linke und kam so zu Sturz – das jähe Ende aller Tourneeträume. Bis dahin konnte Freitag seine Form aus den bisherigen Weltcup-Wettbewerben eindrucksvoll bestätigen, Trainer Schuster sah in springerisch auf einem Niveau mit Stoch. Ob dies gereicht hätte, den Polen zu schlagen, bleibt fraglich.

Schuster: „Das ist feige“

Fraglos falsch hingegen war für Schuster die vom Technischen Delegierten der FIS Geir Steinar Loeng verantwortete Wettkampfführung in Innsbruck. Die offensive Taktik des Norwegers, trotz des wechselnden Windes und einer sehr schlechten Sicht den Anlauf für Freitag vor dessen Sprung nicht zu verkürzen, brachte den Bundestrainer auf die Palme – und der FIS eine rege Diskussion um Strategien der Wettkampfführung ein. „Immer alles auf uns Trainer bei wechselnden Bedingungen abzuwälzen, ist nicht der richtige Weg, das ist feige“, gab Schuster in deutlichen Worten zu Protokoll, um am Tag darauf gegen den kritisierten FIS-Verantwortlichen nachzulegen: „Ich kenne die Philosophie des Norwegers, diese ist nicht meine. Der gestrige Tag hat sich für diese Wettkampfführung nicht geeignet.“

Ungeachtet der steilen These, dass die Jury durch ihre Entscheidung die Tournee vorzeitig entschied, ist die von Schuster ins Spiel gebrachte Diskussion um die Wettkampfführung sicherlich nicht fehl am Platz – gerade vor der anstehenden Skiflug-WM in Oberstdorf, wo das Verletzungsrisiko durch die deutlich höheren Weiten nochmals steigt. Die Verantwortlichen werden sich der Frage stellen müssen, ob eine spektakuläre Weitenjagd, oder aber die Gesundheit der Athleten im Vordergrund stehen sollte.

Wellinger sichert positive DSV-Bilanz

Dass Werner Schuster dennoch auch Grund zur Freude blieb, hatte er vor allem Andreas Wellinger zu verdanken. Nach einem holprigen Start in die Tournee mit den Plätzen zehn und elf war der 22-Jährige nach dem Ausscheiden von Freitag zur Stelle und übernahm dessen Führungsrolle. Mit zwei dritten Plätzen in Innsbruck und Bischofshofen katapultierte sich Wellinger noch auf den zweiten Gesamtrang und sicherte sich die beste Tourneeplatzierung seiner Karriere. Das starke Abschneiden des Team-Olympiasiegers von 2014 unterstreicht vor allem die hohe Leistungsdichte in der DSV-Mannschaft, der Traum vom ersten deutschen Gesamtsieg nach 16 Jahren bleibt jedoch vorerst bestehen.

Daran konnte auch Markus Eisenbichler nichts ändern, dessen Wettkampfleistungen wie schon so oft hinter den teils überragenden Trainingseindrücken zurückblieben. Mit der Wiederholung seines siebten Gesamtranges aus dem Vorjahr zeigte er sich dennoch zufrieden. Überzeugen konnte Karl Geiger, der sich mehr und mehr in den Top 15 der Welt etabliert, als Gesamt-Elfter, ebenso wie Stephan Leyhe als 13. Eine positive Überraschung aus deutscher Sicht war der erst 18-jährige Constantin Schmid, der es bei allen vier Wettbewerben in den zweiten Durchgang schaffte.

Polen mit Licht und Schatten

Eine positive Gesamtbilanz ob des historischen Triumphes seines Top-Athleten konnte auch Schusters Landsmann Stefan Horngacher ziehen. Zufrieden sein durfte der Cheftrainer der Polen neben Stoch auch mit Dawid Kubacki, der es in Oberstdorf als Dritter zum ersten Mal überhaupt auf das Weltcup-Podest schaffte und in der Gesamtwertung guter Sechster wurde. Dass die mannschaftliche Stärke der Polen im Vergleich zur Vorsaison jedoch nachgelassen hat, bestätigte sich in Person von Piotr Zyla und Maciej Kot. Die beiden Team-Weltmeister von Lahti, bei der Tournee im Vorjahr noch Zweiter und Vierter im Gesamtranking, kamen jeweils nicht über das Mittelmaß hinaus, Kot verpasste in Bischofshofen gar den Finaldurchgang. In der Gesamtwertung wurde er nur 23., Zyla 15.

Norwegen: Fannemel sticht hervor

Mit einer vollauf überzeugenden Teamleistung konnten dagegen die Norweger um Cheftrainer Alexander Stöckl glänzen. Vier seiner Schützlinge platzierten sich in der Gesamtwertung unter den besten zehn, Anders Fannemel zur Überraschung vieler gar auf dem dritten Gesamtrang. Dass sich die stärker als Fannemel eingeschätzten Daniel-André Tande und Johann Andre Forgang am Ende auf den Plätzen acht und neun wiederfanden, zeigt zugleich die Schwachstelle des norwegischen Teams auf.

Mannschaftlich stets geschlossen unterwegs, fehlt gerade den Top-Springern die individuelle Konstanz, um dauerhaft mit der Spitze mithalten zu können. Die Gesamtwertung hatte sich für Tande und Co. nach dem Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen somit bereits erledigt. Das mannschaftliche Abschneiden sowie der dritte Gesamtrang Fannemels sorgt dennoch für eine positive Tourneebilanz, welche die Fliegernation Norwegen gleichzeitig zum Favoriten für den Teamwettbewerb der Skiflug-WM in Oberstdorf macht.

Österreich erlebt ein Tournee-Debakel

Während die Kritik an der Leistung der norwegischen Skispringer also getrost der Kategorie „Jammern auf hohem Niveau“ zugeordnet werden darf, würde man sich im Lager der Österreicher nur allzu gerne mit derlei Problemen beschäftigen. Stattdessen müssen sich die Verantwortlichen beim ÖSV mit einer desaströsen Tournee-Bilanz auseinandersetzen. Das Abschneiden in Garmisch-Partenkirchen, als sogar der einzige Hoffnungsträger Stefan Kraft den Finaldurchgang verpasste, bedeutete das schlechteste Resultat seit 39 Jahren. „Es ist zum Haare raufen“, befand Cheftrainer Heinz Kuttin im Anschluss an das Neujahrsspringen. Ein Fazit, das ebenso zur derzeitigen Gesamtsituation im österreichischen Skispringen passt.

» Heinz Kuttin spricht über österreichisches Tournee-Debakel

Michael Hayböck wurde als 14. in der Gesamtwertung bester Österreicher, Gregor Schlierenzauer verpasste sowohl in Innsbruck als auch in Bischofshofen den zweiten Durchgang. Die einstigen Überflieger aus der Alpenrepublik, welche zwischen 2009 und 2015 sieben Mal in Folge den Gesamtsieger der Vierschanzentournee stellte, erlebten bei der diesjährigen Ausgabe eine Bruchlandung. Kuttin, bereits im Vorfeld der Tournee kritisiert, ist längst nicht mehr unumstritten. Immerhin: Stefan Kraft wurde zum Abschluss in Bischofshofen wie schon in Oberstdorf Vierter, auch Michael Hayböck verzeichnete in der zweiten Tourneehälfte einen leichten Aufwärtstrend.

Ein Türke bei der Tournee: Ipcioglu sorgt für Premiere

Weniger für sportliche Highlights als vielmehr für eine vielbeachtete Premiere sorgte Fatih Arda Ipcioglu. Als erster Türke bei der Vierschanzentournee überhaupt ging er in Oberstdorf und in Garmisch-Partenkirchen an den Start – verfehlte die Qualifikation für die Wettkämpfe allerdings jeweils deutlich. Gar nicht erst zur Qualifikation antreten konnten die US-Amerikaner in Innsbruck. Dem Team, das in der Vorwoche noch nationale Wettkämpfe ausgetragen hatte, kamen bei der Anreise das gesamte Gepäck samt Sprungskier abhanden. Deshalb konnten Michael Glasder und Co. erst zur Qualifikation in Bischofshofen in die Spur gehen – aufgrund eines nicht regelkonformen Sprunganzuges wurde Glasder in dieser prompt disqualifiziert.

Kobayashi fehlen zwei Zehntel, Sloweniens Nachwuchs überzeugt

Zu den Gewinnern der diesjährigen Vierschanzentournee darf sich Junshiro Kobayashi zählen. Mit beeindruckender Konstanz – bei allen vier Springen landete er zwischen Platz vier und sieben – sicherte er sich den starken vierten Gesamtrang, mit nur haudünnen 0,2 Punkten Rückstand auf den Dritten Fannemel. Das knappe Verfehlen des Podests darf jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Japan wieder einen Weltklasse-Skispringer in seinen Reihen hat. Aufgrund seines wenig spektakulären Sprungstils oft unauffällig, wird ihn spätestens nach seinem Abschneiden beim alljährlichen Saisonhighlight niemand mehr unterschätzen.

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In jugendlicher Frische und Unbekümmertheit kamen die Slowenen bei der Tournee daher. Das zuletzt schwächelnde Team um den einstigen Seriensieger Peter Prevc mischte mit gleich drei Jungspunden bei der Weitenjagd mit, und konnte durchaus Achtungserfolge erzielen – allen voran der fünfte Platz des 20-jährigen Tilen Bartol beim Neujahrsspringen. Der erst 17-jährige Timi Zajc wurde im Gesamtranking zudem guter 16., sein drei Jahre älterer Teamkollege Ziga Jelar 17. Goran Janus setzt nach zuletzt ausbleibenden Erfolgen auf die junge Garde – die Tournee zeigt, dass sich dieser Weg als richtig erweisen könnte.

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Über Sebastian Theuner 16 Artikel
Seit Dezember 2013 im Team von skispringen.com. Hat bereits seit dem Kindesalter ein Faible für das Schreiben und den (Skisprung-)Sport. War und ist bei verschiedenen Tages-, Wochen- und Fachzeitungen als Praktikant und freier Mitarbeiter tätig. Studiert an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

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