Halvor Egner Granerud war in der Saison 2020/2021 der dominierende Mann im Skispringen und krönte sich folgerichtig zum Gesamtweltcupsieger. skispringen.com stellt den 24-jährigen Norweger genauer vor.
Spätestens am 20. Dezember 2020 war auch dem letzten Skisprunginteressierten klar, dass Halvor Egner Granerud der Athlet sein würde, den es zu schlagen gilt, wenn man den Gesamtweltcup 2020/2021 gewinnen will. Genau an jenem Tag fuhr der Norweger seinen fünften Weltcupsieg in Folge ein und schaffte damit etwas, was zuvor noch keinem Landsmann gelungen war – einzig Maren Lundby schaffte Anfang 2019 sechs Erfolge in Serie. Es sollte nicht sein einziger Rekord in dieser so außergewöhnlichen Saison sein.
Mit insgesamt elf Tageserfolgen erreichte er die Bestmarke von Roar Ljoekelsoey, der bis dato die meisten Weltcup-Siege eines Norwegers verbuchte. Nur mit dem Unterschied, dass Ljoekelsoey dafür vier Saisons brauchte, während Granerud dies in drei Monaten vollbrachte. Und obwohl er in seinem Heimatland längst auf den Titelseiten der Zeitungen auftaucht und ihm der Norwegische Rundfunk ‚NRK‘ eine halbstündige Dokumentation widmete, ist er (k)ein Shootingstar. Warum das gar nicht so einfach zu definieren ist, erklärt skispringen.com in diesem Porträt.
Showman in Teenagertagen
Noch bevor er international überhaupt in Erscheinung trat, wurde er im März 2013 im zarten Alter von 16 Teil eines spektakulären Auftritts, der weltweit große Wellen schlug. Beim Skifestival am weltberühmten Holmenkollen stürzten sich gleich fünf Springer kurz nacheinander fast gleichzeitig vom Bakken – und Halvor Egner Granerud war mittendrin. Mit über 180.000 Aufrufen ist dieses Video das bis heute meistgeklickte auf dem ‚YouTube‘-Kanal der Skisprungsektion des Internationalen Skiverbandes (FIS). Es war bereits der zweite Internet-Hit mit ihm als Showman.
Vor seinem Vierschanzentournee-Debüt 2015 ging ein Clip von ihm viral, der bereits 2012 gefilmt wurde. Dieser zeigt den gebürtigen Osloer, wie er auf der 60-Meter-Schanze in Midstua, nur wenige hundert Meter vom Holmenkollen entfernt, einen Sprung absolviert – nur mit Helm, Brille, Handschuhen und den benötigten Schuhen bekleidet. „Natürlich ist das schon witzig, wenn man einige Geschichten in Verbindung mit seinem eigenen Namen liest“, sagte Granerud seinerzeit mit einem schelmischen Grinsen zu ‚NRK‘. Und es sollte nicht die letzte kuriose Anekdote bleiben.
Granerud macht sich keinen Kopf (mehr)
Am 9. Februar 2016 reiste der Vertreter des Asker Skiklubb voller Vorfreude zum Weltcup-Skifliegen nach Vikersund. Nur, um dort festzustellen, dass er gar nicht teilnehmen darf, da er zu diesem Zeitpunkt weder Sommer-Grand-Prix- noch Weltcuppunkte vorzuweisen hatte, die er aber gebraucht hätte. Doch aus dieser Panne mangels Regelkenntnis machte er auf seine ganz eigene Art und Weise das Beste: „Ich werde die Schanze dann eben als Vorflieger in Angriff nehmen und hoffe, einige weite Flüge zu machen – hoffentlich auch über die 200-Meter-Marke“, kündigte er auf seiner ‚Facebook‘-Seite an und segelte genau zwei Tage später er in einem phänomenalen Flug auf dem nicht unumstrittenen Monsterbakken auf 240 Meter – bei seinem allerersten Flug überhaupt, womit er seine persönliche Bestweite um sagenhafte 100 Meter verbesserte
Bei allem vorhandenen Ehrgeiz neigt er nicht dazu zu verkrampfen und hat immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. So auch nach dem Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen, wo er nach Halbzeitführung noch vom überragenden Dawid Kubacki überflügelt wurde: „Das war ein Wettkampf, den ich unbedingt gewinnen wollte und es ist natürlich schade, dass es nicht geklappt hat. Aber ich habe vor, andere coole Sachen zu machen.“ Aus seiner Frühgeschichte weiß man jedoch, das war nicht immer so. „Auch durch die Covid-Zeit hat er gelernt, geduldiger zu werden und sich nicht mehr verrückt zu machen“, erzählte sein Vater Svein, der auch in der ‚NRK‘-Doku ausführlich zu Wort kam, im Gespräch mit skispringen.com.
Die Geschichte mit dem sauren Apfel
Auch das dramatische Ende im Einzel-Wettkampf bei der Skiflug-WM, bei dem er nach vier Flügen in einem packenden Duell mit Karl Geiger die Goldmedaille um genau einen halben Punkt verpasste, war ein Musterbeispiel dafür. So bitter der Ausgang auch für Granerud war, so schnell fand er das Lachen zurück – auch, weil das Umfeld passt. Sportdirektor Clas Brede Braathen reichte dem Silbermedaillengewinner im Hotel eine Frucht und sagte: „Hier ist etwas, was du bei deinem Abendessen vergessen hast – der saure Apfel.“ Diesmal brach sein Schützling vor Lachen in Tränen aus und kommentierte diesen Scherz mit einem „der war gut!“
Die eigentliche Ebene dieses Witzes, der in Norwegen verbreitet ist, war für Nicht-Norweger nicht gänzlich verständlich, doch Vater Svein löste das Rätsel auf: „Halvor sagte, nachdem er den Apfel gegessen hatte: ‚Er hat sehr süß und gut geschmeckt‘. Dieser Satz ist ein Zitat aus dem Buch ‚Klaus Klettermaus‘ seines Urgroßvaters Thorbjoern Egner.“ Der Kinderbuchautor verstarb an Heiligabend 1990, also fünfeinhalb Jahre vor Graneruds Geburt. Dennoch ist die Verbindung durchaus innig.
„Obwohl es lange her ist, dass er diese Geschichten geschrieben hat, funktionieren sie auch noch in der heutigen Zeit. ‚Die Räuber von Kardemomme‘ oder ‚Hakkebakkeskogen‘ sind immer noch relevant“, schwärmte der Überflieger einmal und berücksichtigte dabei nicht einmal das international wohl bekannteste Werk seines Urgroßvaters, nämlich ‚Karius und Baktus‘. Ganz ohne Zahn- oder Bauchschmerzen führte er seine Mannschaft dann 24 Stunden später zur Goldmedaille im Teamfliegen.
Der Skispringer, der nicht aufgeben wollte
Dreieinhalb Monate danach steht Halvor Egner Granerud erneut im Auslauf der Skiflugschanze von Planica: Mit der großen Kristallkugel des Gesamtweltcupsiegers in der Hand und am Ziel seiner Träume. Genau dieses hatte er sich nach der verkorksten Saison 2019/2020 gesetzt, in der er teilweise sogar im zweitklassigen Continental-Cup die Top 30 verpasste. Eine Situation, aus der sich die wenigsten Athleten nochmal zurückkämpfen können. Zusammen mit Christian Meyer und Henning Stensrud, die die Damen-Mannschaft der Norweger betreuen, aber auch im Trainingszentrum in Trondheim arbeiten, machte Granerud einen Plan.
Er überdachte sämtliche Facetten seines Sprungs, aber auch seiner Herangehensweise. Formtechnisch arbeitete er sich Stück für Stück nach oben, indem er sich auf der Schanze Stück für Stück nach unten arbeitete – was den Landepunkt angeht, aber insbesondere die Wahl des Startgates. Und das in einem bemerkenswerten Tempo. „Im Juli kam er auf der Normalschanze in Oslo nicht über die 90 Meter, aber bereits Ende Oktober war er sich sicher, dass er der Beste der Welt sein kann“, verriet sein Vater skispringen.com. Und genau so sollte es kommen.
13 Mal stand er in Weltcup-Einzelspringen auf dem Podium, elf Mal siegte er und wurde zwei Mal Zweiter. Mit der Mannschaft gewann er in Lahti und wurde Dritter in Zakopane, dazu gewann er mit dem Mixed-Team in Rasnov und zudem noch Silber im Mixed bei der WM in Oberstdorf. Das Gefühl, dass es noch mehr hätte werden können, wird man ebenso wenig los wie die Tatsache, dass es nicht mehr zu ändern ist. Und damit kann der leidenschaftliche Gamer sehr gut leben, schließlich hatte er sein Ziel erreicht: „Hätte ich mir den WM-Titel als Ziel gesetzt, wäre die Covid-Infektion eine absolute Katastrophe für mich gewesen. So war ich zwei Wochen krank und bin trotzdem mit mir zufrieden.“
Granerud dank Reifeprozess dauerhaft an der Spitze?
Aus ihm spricht gleichzeitig aber auch ein Sportsmann, der gereift ist und verstanden hat, dass man auch mit viel Talent nichts erzwingen kann. Im Juniorenalter hat Granerud zehn von zwölf möglichen Medaillen bei norwegischen Meisterschaften geholt, holte bereits im Alter von 16 erstmals den Titel. Dieser Reifeprozess und seine akribische Arbeitsweise haben ihm in dieser Saison den ganz großen Wurf beschert und könnten gleichzeitig auch der Grund dafür sein, weshalb es nicht nur bei dieser einen bärenstarken Saison bleibt. „Es ist wie beim Hausbau: Wenn das Fundament stimmt, kann man von dort aus weitermachen. Vielleicht gewinnt er nicht derart viel wie in dieser Saison, aber er sein hohes Grundniveau wird bleiben“, ist sich Svein Granerud sicher.
Auch wenn dem 24-Jährigen beim Weltcup-Finale in Planica aufgrund der Folgen der Corona-Infektion noch etwas Energie fehlte, ist der Ausblick in die Zukunft rundum positiv. Den üblichen Stress eines Titelträgers mit zahlreichen Terminen wird er nicht haben, im April stehen lediglich zwei TV-Auftritte an. Doch auch in der alten Normalität achtete man im norwegischen Verband darauf, die Bedürfnisse der Athletinnen und Athleten und der interessierten Medien in einer gesunden Balance zu halten. „Vor allem Pressesprecher Steinar Bjerkmann macht einen tollen Job. Er hat einen guten Plan und weiß ganz genau, wie viel Medienarbeit der Mannschaft zumuten kann“, schwärmte Vater Svein.
Für den Sommer steht aber noch eine ganz andere Sache auf der Wunschliste: Ein Training mit den Kindern vom Asker Skiklubb. Egal, wohin Halvor Egner Graneruds Weg noch führt, seine Wurzeln wird er nicht vergessen. Und auch das erzählt vieles über ihn, der auch das ein oder andere Mal missverstanden wurde.
Danke für das fundierte und sehr interessante Portrait. Ein schöner Saisonabschluss. ihr seid die Besten!