Mit Sarah Hendrickson hat eine Skisprung-Größe ihren Rücktritt verkündet. Im Exklusiv-Interview mit skispringen.com spricht die US-Amerikanerin über ihre Laufbahn und die Zukunft des Frauen-Skispringens.
Im zarten Alter von gerade einmal 13 Jahren gab Sarah Hendrickson am 16. Februar 2008 im niederbayrischen Rastbüchl ihr internationales Debüt. Beim für die Damen seinerzeit noch erstklassigen Continental Cup reichte es für die US-Amerikanerin für Platz 24. Obwohl sie schon damals als großes Talent galt, konnte noch niemand ahnen, dass sie früher oder später Geschichte schreiben würde – auch, weil die Entwicklung der Sportart nicht absehbar war.
Erst 2011 wurde der Weltcup für die Damen eingeführt und Hendrickson setzte einen großen Meilenstein. Ihrem Sieg beim Auftakt in Lillehammer ließ sie acht weitere folgen und krönte sich mit 17 Jahren zur ersten Gesamtweltcup-Siegerin der Geschichte. Nicht einmal ein Jahr danach sprang sie in Predazzo zum Weltmeistertitel und gewann zum Saisonfinale das erste Weltcupspringen auf einer Großschanze am legendären Osloer Holmenkollen. Noch bevor sie in ihrem Geburtsland volljährig wurde, hatte sie sich selbst zu einer der größten des Skisprungsports gemacht.
Großes Verletzungspech bremst Hendrickson aus
Mit den großen Erfolgen im Rücken bereitete sich die in Salt Lake City geborene Springerin auf die Olympia-Premiere in Sotschi vor. Doch kurz nach ihrem 20. Geburtstag geschah das Fatale: Bei einem Trainingskurs in Oberstdorf flog sie bei zu langem Anlauf 148 Meter weit – zu weit. Ihr Knie hielt dem Landedruck nicht stand und ging kaputt. Der Traum von Olympia drohte zu zerplatzen, doch Hendrickson setzte alles daran, dabei zu sein. Nach zwei Operationen trat sie tatsächlich in Sotschi an und wurde die erste Skispringerin, die bei Olympia vom Bakken ging. In diesem einzigen Wettkampf, den sie in der Saison 2013/2014 bestritt, wurde sie 21. und musste sich danach einer erneuten OP unterziehen.
In der Folgesaison gelangen ihr ihre letzten drei Podestplätze im Weltcup: Im slowenischen Ljubno wurde sie zwei Mal Dritte, ehe der zweite Rang am Holmenkollen ihr letztes Podium bleiben sollte. Im Sommer 2015 erlitt die damals 21-Jährige ihren zweiten Kreuzbandriss und verpasste daraufhin die Saison 2015/2016. Doch auch von diesem kämpfte sie sich zurück: Sie qualifizierte sich auch für die zweiten Olympischen Spiele in Pyeongchang, wo sie als beste US-Amerikanerin Platz 19 belegte. Es sollte ihr letztes Karriere-Highlight bleiben, rund einen Monat später holte sie als 26. in Oberstdorf ihre letzten Weltcuppunkte – die einzigen im Saisonverlauf.
Hendrickson: Auch neben der Schanze eine prägende Figur
Auch neben der Schanze stellte sie eine Ausnahmeerscheinung dar. 2017 wurde sie als Vertreterin der Skispringerinnen in die Athletenkommission der FIS gewählt und zwei Jahre später in ihrem Amt bestätigt. Genau diese Wiederwahl stand dafür, was nicht nur ihre Mitstreiterinnen an ihr schätzten: Ihre Eloquenz, ihre Weitsicht und nicht zuletzt ihren Einsatz für das Damen-Skispringen als solches. Nach drei COC-Starts im Sommer 2019 erlitt sie Ende 2019 eine schwere Rückenverletzung, welche zunächst ihr Comeback und nun in gewisserweise auch ihre Karriere beendete.
skispringen.com-Redakteur Luis Holuch sprach exklusiv mit Sarah Hendrickson über die Rücktrittsentscheidung, ihre turbulente Laufbahn und über ihre persönliche Zukunft, aber auch jene des Damen-Skispringens.
Sarah, deine Rücktrittserklärung vergangene Woche hat in der Skisprungszene große Wellen geschlagen. Was hat den Ausschlag dafür gegeben, dass du diese Entscheidung getroffen hast?
Sarah Hendrickson: Es gab einige Faktoren, die mich dazu bewogen haben. Ich habe sechs Knie-Operationen hinter mir, die erste war bereits 2012 nach meinem Gesamtweltcupsieg. Besonders seit Olympia 2014 habe ich kaum schmerzfrei trainieren können und schon gar nicht in dem Umfang, in dem ich trainieren wollte. Und nach der Rückenverletzung ist genau das gleiche passiert, es fühlte sich einfach nicht mehr richtig an. Ich wusste schon im Sommer 2020, dass ich zurücktreten werde und wollte mir deshalb die Zeit nehmen, es meinen Unterstützern und Sponsoren zu sagen. Doch das ist mir wirklich schwergefallen.
Hast du dich deshalb entschieden, deinen Rücktritt erst am Saisonende bekanntzugeben?
Hendrickson: Nein, das hatte einen anderen Hintergrund. Ich habe die Nachricht erhalten, dass ich einen Platz in einer Krankenpflegeschule bekommen habe. Darauf hatte ich mich im Februar beworben, für mich ist das der richtige Weg. Selbst, wenn ich diesen Platz nicht bekommen hätte, hätte es nichts an meiner Entscheidung geändert. So hat es das Gefühl bestärkt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Veränderung ist. Und ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr ich mich auf diesen neuen Lebensabschnitt freue.
Du hast wahnsinnig viel in deiner Laufbahn erlebt. Gibt es einen Moment aus dieser Zeit, der für dich der schönste war?
Hendrickson: Definitiv die WM 2013! Und zwar nicht nur, weil ich damals gewonnen habe. Natürlich bin ich stolz darauf, dass ich an diesem Tag alles zusammengebracht habe, das erfordert auch mentale Stärke. Aber auch unser Team seinerzeit war einfach großartig. Wir waren eine Gruppe von fünf Frauen, die neun Monate im Jahr weg von Zuhause waren und durch die Welt gereist sind. Das war sehr herausfordernd, aber genau das hat uns zusammengeschweißt. Wir haben zwei Mal in Folge die Nationenwertung gewonnen und meine Teamkolleginnen haben mich auf ein neues Level gebracht. Der Zusammenhalt in unserem Team und die Jubelbilder als das Ergebnis feststand werde ich für immer in meinem Herzen behalten.
Auf der anderen Seite hattest du auch viel Pech während deiner Karriere. Gab es einen Moment, der dir am meisten geschmerzt hat?
Hendrickson: Ja, das war der Sturz in Oberstdorf im Sommer 2013. Das war Schmerz pur, sowohl körperlich als auch seelisch. Denn ich wusste in diesem Moment bereits, dass ich bei Olympia nicht so gut springen würde, wie ich es mir gewünscht hätte – wenn ich es überhaupt dorthin schaffen würde. Ich bin dann nicht als Medaillenkandidatin dorthin gefahren, sondern mit gerade einmal 20 Sprüngen Vorbereitung. Das ist verrückt, dafür lief es dann sogar okay. Grundsätzlich waren aber die vergangenen sechs Jahre hart, denn ich habe nie wieder mein bestes Niveau erreicht. Wenn du einmal siegreich warst, willst du das wieder erleben. Und wenn du aufgrund mentaler Blockaden oder körperlicher Schmerzen nicht mehr dorthin kommst, ist das schwer zu akzeptieren.
Was wird dir am meisten aus deiner Skisprungzeit fehlen? Und was am wenigsten?
Hendrickson: Ganz klar: Die Menschen. Ich habe so viele Sportlerinnen und auch Trainer kennenlernen dürfen, die einfach großartig sind. Diese Gemeinschaft ist etwas sehr besonderes. Nun werde ich sie nicht mehr so häufig sehen wie früher, aber man ist ja nicht aus der Welt. Was ich derzeit gar nicht vermisse, ist das Reisen. Und wir US-Amerikanerinnen müssen sehr viel reisen und lange Strecken überwinden. Aber so wie ich mich kenne, werde ich auch das früher oder später vermissen. (lacht)
Endet mit deiner aktiven Laufbahn auch deine Amtszeit als Athletensprecherin in der FIS-Athletenkommission?
Hendrickson: Normalerweise hätte in diesem Jahr wieder eine Wahl angestanden, wir werden in den WM-Jahren für zwei Jahre gewählt. Doch, weil es aufgrund der Pandemie so ein verrücktes Jahr war, wurde diese Wahl auf 2022 verschoben. Bis dahin bleibe ich also in dieser Rolle, werde aber nicht wiedergewählt werden können. In der Zwischenzeit werde ich mir Gedanken darüber machen, wer diese Rolle einnehmen könnte. Denn gerade im Frauen-Skispringen ist das eine wesentliche Rolle – es ist viel mehr als nur in den Meetings zu sitzen und da und dort mal etwas zu sagen. Man muss Dinge und Entwicklungen vorantreiben wollen und auch genau so agieren. Ich werde aber weiter sportpolitisch aktiv und dem Skispringen so erhalten bleiben, vielleicht im Sub- oder Kalender-Komittee, das wird sich noch herausstellen. Das ist auch wichtig, denn wir brauchen viel mehr Frauen in diesen Gremien. Es gibt noch viel zu tun.
Was muss sich in naher Zukunft im Frauen-Skispringen tun? Welche Entwicklungen müssen vorangetrieben werden?
Hendrickson: Es wird ja bereits viel über die Diskrepanz zwischen den Weltcup-Kalendern der Männer und Frauen gesprochen – die ist ja völlig unbestritten. Schaut man aber auch auf den Continental- und FIS-Cup, ist die Lücke noch größer. So wie in dieser Saison, wo es nur zwei COCs für die Frauen gab. Mein Endziel ist es, an jedem Wochenende einen Weltcup zu haben, parallel dazu aber auch einen weiteren Wettbewerb – ob COC oder FIS-Cup spielt dabei nicht die ganz große Rolle. Es sollte aber auch für die Frauen so sein, dass diejenigen, die noch nicht das Weltcup-Niveau haben, sich trotzdem messen können. Warum haben wir denn in Ljubno 80 Starterinnen gehabt? Weil es sonst keine Wettkämpfe gab. Das ist zwar einerseits sehr schön, weil es zeigt, wie sehr unser Sport gewachsen ist. Auf der anderen Seite gibt es dann aber für so viele Athletinnen nur vier Sprünge an diesen einem Wochenende, während andere neun machen. Und das lässt die Athletinnen ja nicht wachsen, was eigentlich das ist, was wir brauchen. Ich werde mich dafür einsetzen, dass es mehr Wettkämpfe für den Unterbau gibt. Und ein weiteres Thema sind die Preisgelder. Ich verstehe voll und ganz, dass Veranstalter gerade in diesen Zeiten mit finanziellen Probleme haben und wenn man das Preisgeld erhöht, bürdet man ihnen zusätzlich noch etwas auf. Auf der anderen Seite ist es aber völlig inakzeptabel, dass wir Frauen nur ein Drittel von dem verdienen, was die Männer verdienen. Wenn man dann noch hinzurechnet, was durch Sponsoreneinnahmen und Qualifikationspreisgeld hinzu kommt, ist es sogar noch weniger. Es ist natürlich utopisch, die Summen von jetzt auf gleich identisch zu gestalten. Aber ich habe mir als Ziel gesetzt, das Preisgeld für die Frauen schrittweise über die nächsten etwa fünf Jahre zu erhöhen.
Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für die Zukunft!
Schade, aber nach ihrer langen Leidenszeit eine nachvollziehbare Entscheidung. Das Duell Sarah vs Sara war es, was mich zum begeisterten Verfolger des Frauenskispringens gemacht hat.