Mit dem vorzeitigen Finale in Oberhof ging am Wochenende die Weltcup-Saison der Skispringerinnen zu Ende. Nun ist es wieder an der Zeit für die skispringen.com-Saisonanalyse: Das waren die „Tops und Flops“.
Nach 19 Einzel- und einem Teamspringen im Weltcup, sowie den Olympischen Spielen in Peking mitsamt der Premiere des Mixed-Team-Springens ist die Saison der Skispringerinnen mit der Weltcup-Premiere in Oberhof zu Ende gegangen. Das geplante Saisonende mit der Blue-Bird-Tour war den Athletinnen nicht vergönnt, die Veranstaltung wurde nach der Invasion Russlands in die Ukraine abgesagt. skispringen.com nimmt sich in „Tops und Flops“ den Platz, auf alle großen und kleinen Geschichten des Winters zurückzublicken und diese einzuordnen.
Die Gewinnerin des begehrtesten Preises am Ende einer Skisprung-Saison ist heuer jene Springerin, die sich durch ihr Auftreten auf und neben der Schanze schon im vergangenen Winter in die Herzen vieler Fans gesprungen hat. Nicht einmal ein Jahr nachdem Marita Kramer die große Kristallkugel der Gesamtweltcupsiegerin denkbar knapp verpasst hatte, hielt sie sie nun in Oberhof in den Händen. Und sie gab offen und ehrlich zu: „Damit fällt eine Last von meinen Schultern. Ich wollte es bis jetzt einfach nicht aussprechen, weil ich doch schon öfter erlebt habe, dass es dann doch anders kommt. Aber jetzt kann ich es aussprechen.“
Marita Kramer: Happy End nach dramatischem Olympia-Aus
Zur Saison-Halbzeit, die heuer aufgrund vieler Umstände bereits am Silvester-Tag lag, hatte sie bereits fünf ihrer sieben Saisonsiege eingefahren und führte das Klassement unangefochten an. Doch nach dem sechsten Erfolg in Willingen meinte es das Schicksal abermals nicht gut mit der 20-Jährigen: Eine Corona-Infektion sorgte dafür, dass sie das große Saison-Highlight Olympia verpasste. Vier Jahre hatte sie auf dieses Großereignis hingearbeitet, in nur wenigen Stunden zerplatzte dieser große Traum.
„Ich hoffe, dass ich auch mal Glück habe“, sagte sie bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt danach – und wurde erhört. Sie war „jetzt nicht mehr ganz so gut in Form“, wie sie ebenfalls ehrlich zugab, doch mit einem weiteren Sieg in Lillehammer und einem zweiten Platz in Hinzenbach trug auch sie selbst einen großen Teil zum zweiten Gesamtweltcup-Sieg einer Österreicherin nach Daniela Iraschko-Stolz in der Saison 2014/2015 bei. Es war das Happy End einer Saison, die für Kramer selbst und auch den Rest des Teams nicht immer einfach war. So mussten mit Iraschko-Stolz und Sophie Sorschag mussten gleich zwei Landsfrauen ihre Saison vorzeitig beenden, Eva Pinkelnig entschied sich am Ende eines turbulenten und kräftezehrenden Winters für eine Auszeit und gegen das Weltcup-Finale.
Weltcup-Saison 2021/2022: Ein Buch mit sieben Siegerinnen
Wer nun aber glaubt, dass sich auch abseits von Kramers identischer Siegzahl im Vergleich zur Vorsaison nichts getan hat, der sieht sich getäuscht: Mit zwölf unterschiedlichen Springerinnen auf dem Podest verdoppelte sich die Zahl. Zudem gab es gleich drei Podest-Neulinge – und alle drei wurden jeweils Dritte: Alexandra Kustova aus Russland flog in Willingen dank Landesrekord von 150 Metern auf diese Podeststufe. Nicht einmal einen Monat später gelang dies in Hinzenbach zunächst Lisa Eder, die in Peking als Achte beste Österreicherin wurde, keine 24 Stunden später dann der Französin Josephine Pagnier.
Ganze sieben Springerinnen konnten mindestens ein Springen gewinnen – das hatte es in keiner der zehn Saisons zuvor gegeben. Mit Ursa Bogataj, ihrer Teamkollegin Ema Klinec, die Kramer nur einen Tag nach deren Sieg mit dem Rekordvorsprung von 41,7 Punkten in Nischni Tagil bezwingen konnte, sowie Silje Opseth, die einen emotionalen Sieg am Holmenkollen bejubelte, gab es zudem gleich drei Premierensiegerinnen.
Zoran Zupancic‘ Sloweninnen erreichen (vorläufigen) Zenit
Marita Kramers Erfolge nehmen in dieser Saison eine Ausnahmestellung ein, denn bis auf den Gesamtweltcup und das neu eingeführte Silvester-Tournament in Ljubno gingen alle großen Titel nach Slowenien: Ursa Bogataj holte sowohl im Einzel als auch im Mixed-Team Olympia-Gold und sorgte dann in Hinzenbach durch ihr zu frühes Losfahren vom Balken auch noch für die kurioseste Disqualifikation. Davon profitierte wiederum Nika Kriznar, die zunächst die ebenfalls neue „Alpenkrone“ abstaubte und sich eine Woche später durch herausragende Konstanz den Raw-Air-Titel verdiente.
Beide belegten in der Gesamtweltcupwertung folgerichtig die Plätze zwei und drei, garniert wurde die Dominanz der zweiten Saison-Hälfte mit dem Triumph im Nationencup. Noch nie war die slowenische Damen-Mannschaft derart erfolgreich. Umso überraschender mutete daher zunächst der Rücktritt von Erfolgstrainer Zoran Zupancic an. Doch, wer seiner Begründung lauschte, erfuhr spätestens jetzt, welche tiefgreifenden Probleme das Damen-Skispringen trotz aller sportlichen Aufwärtstendenzen immer noch hat.
„Es ist mir nicht klar, was wir noch tun müssen, um die Einstellung zum Damen-Skispringen zu ändern. Wir haben die wichtigsten Trophäen geholt, die es zu gewinnen gibt, aber es ist nicht nur das. Es ist auch die Haltung des Internationalen Skiverbandes (FIS), dass er nicht einmal das Saisonfinale organisieren kann“, haderte Zupancic – mit seinem eigenen und dem internationalen Skiverband. Es waren Worte eines engagierten Mannes, der vier Jahre lang sein Herzblut in eine ambitionierte, aber noch nicht ganz ausgereifte Mannschaft und eine Sportart mit Entwicklungspotenzial gesteckt hatte und nun enttäuscht feststellen musste: Der sportliche Fortschritt wiegt längst nicht alles auf, was andernorts auf der Strecke bleibt.
Ersatz-Wettkämpfe? Fehlanzeige
Und auch wenn er es nicht offen ansprach, erscheint es nicht weit hergeholt, dass er auch darüber enttäuscht war, dass Planica trotz bestätigter Bemühungen nicht den Zuschlag für Ersatz-Wettkämpfe bekam. Ohnehin erhielt dieser Begriff mit fortschreitender Saisondauer den Status als „Unwort des Jahres“: Den acht ausgefallenen Wettkämpfen von Sapporo und Zao, sowie Nischni Tagil und Tschaikowski (alle jeweils zwei) stand genau ein Ersatz-Wettkampf gegenüber. Bei den Herren konnten hingegen alle drei ausgefallenen Wettkämpfe von Sapporo nachholt werden. Mehr noch: Ausgerechnet am internationalen Frauentag wurde bekannt, dass Zakopane einen ausgefallenen Continentalcup von Tschaikowski nachholen würde. Man habe sich zwar auch bei den Damen immer um Ersatz bemüht, konnte jedoch keine Ausrichter finden, hieß es stets von der FIS.
Dass in diesem Bereich kein Fortschritt erkennbar ist, ist eines von vielen Mosaiksteinchen, die im Kreise des Springerinnen für Unmut sorgen. Im Umfeld der Skiflug-WM in Vikersund trat auch das Thema Skifliegen wieder auf die Tagesordnung, das den Damen trotz einer Initiative im vergangenen Frühjahr erneut verwehrt blieb. Auch eine wissenschaftlichen Untersuchung, die die Flugtauglichkeit der Springerinnen bestätigte, konnte die FIS nicht umstimmen. Solidarität gab es derweil vermehrt aus den Reihen der Skispringer. So drückte beispielsweise Johann Andre Forfang in Vikersund sein Unverständnis aus: „Es ist befremdlich, dass unsere Kolleginnen nicht auch auf die ganz großen Schanzen dürfen.“
Jury-Entscheidungen und Materialkontrollen hinterlassen Spuren
Und auch auf den kleineren Anlagen entsteht ein ums andere Mal der Eindruck, dass nicht alles für attraktive Wettkämpfe getan wird. Besonders frappierend war das Willingen-Wochenende, welches von der FIS als ein Indikator für weitere Entscheidungen hinsichtlich des Skifliegens ausgerufen wurde. Nachdem Yuki Ito mit 154 Metern am Freitag den geschlechterübergreifend weitesten Sprung auf einer Großschanze überhaupt absolviert hatte, wählte die Jury den Anlauf am Folgetag derart defensiv, dass im Wertungsdurchgang nicht ein Sprung über den K-Punkt zustandekam.
Negativ in Erinnerung blieben zudem die zweiten Durchgänge am zweiten Wettkampftag in Klingenthal im Dezember und bei der „Raw Air“ in Lillehammer. In beiden war das Fehlermuster nahezu identisch. Während im ersten Durchgang mit leichten Rückenwindverhältnissen ansehnliche Sprünge zu sehen waren, wurde im Finale nicht auf den aufkommenden Rückenwind reagiert, sodass jeweils drei magere Sprünge über den K-Punkt zu sehen waren. „Man gibt uns nicht die Möglichkeit, genauso weit zu springen wie die Herren. Und das ist einfach nur traurig. Es wäre besser, wenn wir mehr Geschwindigkeit bekämen. Wenn die Trainer das Gefühl haben, dass es zu weit geht, können sie durch den ‚Red Button‘ ja immer noch verkürzen“, beklagte Silje Opseth im Podcast ‚Flugshow‘.
Die hitzigsten Diskussionen entbrannten dann beim Saison-Höhepunkt, den Olympischen Spielen in Peking. Ausgerechnet und mal wieder bei einem Großereignis. Waren es 2019 in Seefeld die Kampfrichter, die mit ihren Noten nicht ganz unbeteiligt an Maren Lundbys WM-Titel waren und in Oberstdorf im vergangenen Jahr die Jury mit einer fragwürdigen Verkürzung vor Marita Kramer, die als letzte Springerin von der Normalschanze springen und nur Vierte werden sollte, so standen in Zhangjiakou plötzlich die Materialkontrolleure im Fokus.
In nie dagewesener Weise wurden bei der Olympia-Premiere des Mixed-Team-Springens gleich fünf Weltklasse-Springerinnen disqualifiziert. Während mit Katharina Althaus, Sara Takanashi und auch Anna Odine Stroem gleich drei disqualifizierte Springerinnen von Abnormalitäten berichteten, war anderen nichts Ungewöhnliches aufgefallen und auch Aga Baczkowska, die für die Kontrollen verantwortlich war, sah sich im Recht. Warum ausgerechnet beim Saison-Highlight plötzlich anders und schärfer kontrolliert wurde, bleibt jedoch so fragwürdig wie schmerzhaft für die Betroffenen – und die Sportart selbst.
Erfahren Sie in Teil 2, wie Katharina Althaus wieder zu einer Siegespringerin wurde, wie der erste Winter unter Bundestrainer Maximilian Mechler verlief und wie „Kleine“ Großes leisteten.
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